Bilder von Henrik Schrat

Band 2

Dornenrose

– Liebe & Reise –

Es war einmal ein kleiner Junge, der brauchte am Ende eines langen und anstregenden Tages in der Regel zwei Dinge vor dem Einschlafen. Einen Becher Milch, gesüßt mit Honig, und ein Märchen. Der Junge ist mittlerweile erwachsen und die Milch benötigt er nicht mehr zwingend. Seine Leidenschaft für Märchen hält jedoch nach wie vor an.

Märchen sind zeitlos. Sie erfahren immer wieder neue Interpretationen, nicht nur in der Literatur sondern auch in Film und Fernsehen. Dadurch bleiben sie nicht nur Teil unseres kulturellen Fundaments sondern prägen darüber hinaus auch unsere zeitgenössische Populärkultur. Der Künstler Henrik Schrat hat sich selbst eine ambitionierte Aufgabe gestellt: die Bebilderung der Märchen der Gebrüder Grimm. Geplant ist eine Gesamtausgabe in fünf Bänden, von denen nun dieser zweite Band „Dornenrose – Liebe und Reise –“ vorliegt.

Der erste positiv zu erwähnende Aspekt ist der Überraschungseffekt, den seine Bilder auslösen. Dass Romane oder andere Erzählformen auch mal bebildert sind, ist ja keine Neuigkeit. Meist wird sich da allerdings an ein Schema gehalten, also alle paar Seiten mal eine ganzseitige Illustration und fertig. So nicht bei Schrat. Nimmt man einfach mal das Buch zur Hand und blättert es von hinten nach vorn herunter, fällt einem bereits auf, wie unterschiedlich die Illustrationen gestaltet sind. Da gibt es kleine Elemente bis hin zu ganzseitigen Bildern, ja sogar einige Illustrationen, die auf der gegenüberliegenden Seite fortgesetzt werden und sich in den Textverlauf fressen. Ein Märchen – eingetunkt in kunstvolle Bebilderungen. Henrik Schrat folgt also keinem festen Schema, sondern hält bei jedem Umblättern etwas nicht zu Erwartendes bereit. Das macht die Wiederlektüre vieler vertrauter aber auch einiger weniger vertrauter Märchen so spannend und lohnenswert.

Als zweites besonders hervorzuheben ist die Art seiner Illustrationen. Da sind düstere Landschaften, in denen das Unheil schon aus der Seite pulsiert. Dann wieder groteske, kleine, schabernackartige Elemente, die zum Teil eingestreut sind. Ganze Welten und Schicksale mit flüchtigem Pinselstrich aquarellig komponiert. Bei den Bildern hat man manchmal das Gefühl, dass sie sich beim Umblättern verändern und dass man, wenn man zu der Seite zurückkehrt, eine leicht modifizierte Version des Bildes vorfindet. Selbstverständlich ist das nicht der Fall, aber die Arbeitsweise von Henrik Schrat erzielt tatsächlich diesen Effekt. Das Konkrete fließt in das Vag-nebulöse und das Ernste paart sich mit dem Bizarren.

Zum Schluss noch ein dritter Punkt, der die Lektüre und Betrachtung dieses Buchs so reizvoll macht. Die Bilder haben, neben der Tatsache, dass sie sehr beeindruckend sind, den Vorteil, dass sie auf vielfältige Art gedeutet werden können. Jeder Leser geht mit seinen eigenen Erfahrungen, seiner eigenen Biografie an die Lektüre. So entstehen viele Deutungsmöglichkeiten, sowohl in Bezug auf die Zeichnungen an sich als auch bezüglich deren Verwendung im Rahmen eines konkreten Märchens.

Entstanden ist ein hervorragender Band, dem es mit Leidenschaft gelingt, Tradition und Populärkultur zu koppeln. Es ist an der Zeit, das Kind in sich wiederzuerwecken, ehe der Erwachsene vergisst, wie gut Märchen für die Seele und das Wohlbefinden sind. In diesem konkreten Fall auch für das Auge.