erschienen 2022 im leykam Verlag

184 Seiten

Was kann man tun? Was kann man tun, wenn alle sich so viel Mühe geben, alle wollen, dass es einem besser geht, aber nichts hilft? Wenn der Körper durch ein großes Gefühl von Hoffnungslosigkeit ausgehöhlt wurde und nur noch ein resigniertes „Ich kann nicht mehr“ zu vermitteln in der Lage ist? Wenn man Luftpolster in sich spürt oder durch diese geht?

„durch luftpolster zu gehen fühlt sich an wie ein maschineller prozess, alles passiert automatisch. ein auslöser drückt play und eine vorbestimmte abfolge beginnt. ich tanze ein regelwerk, gegen das ich mich nicht wehren kann und das ich nicht verstehe.

mein kreislauf schwankt. meine füße sind schwer. meine hände können nicht mehr greifen. ich habe das bedürfnis zu verschwinden. ich renne auf der stelle, bis zur völligen erschöpfung. irgendwann muss ich weinen aus verzweiflung.“

Nach dem Selbstmordversuch ihrer „einen“ Schwester, sie hat noch eine „andere“, lässt sich die Protagonistin in eine psychiatrische Klinik einweisen. Zu aufgebraucht war sie durch die Sorge um ihre Schwester, durch die Unterstützung, die sie ihr hat zukommen lassen, und ja, auch und vor allem durch die eigene Instabilität. Hilft man jemandem und ist selbst instabil, kann man schnell am Helfen zugrundegehen. Daher die Klinik. Der Versuch, sich wieder mehr Stabilität zu verschaffen und lebensfähiger, überlebensfähiger, zu werden.

Aufnahme in der Klinik, Bezugsschwester, Medikamentenausgabe genannt „Stützpunkt“, erste Bekanntschaften im Raucherraum mit Mitpatientinnen, medikamentöse Einstellung, Ergotherapie, Musiktherapie. Die Aspekte des Klinikaufenthalts werden schlaglichtartig behandelt. Die Sprache ist dabei knapp und durchgehend klein geschrieben. Einzig die Namen der Personen fangen mit einem Großbuchstaben an, wobei in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, dass weder die Protagonistin noch ihre beiden Schwestern namentlich benannt werden. Man weiß lediglich, dass Johnny, der Freund der Protagonistin, diese ab und an liebevoll Peach nennt. Mehr nicht.

Es ist ein beklemmendes Buch, da man im Zuge der Lektüre erkennt, wie aussichtslos weit entfernt die Begriffe Genesung und Heilung doch sind. Eine solche Klinik, die alltagssprachlich gern als schützende Käseglocke vor der Welt da draußen bezeichnet wird, kann immer nur als Aufbruchpunkt einer Reise stehen. Rasch stellt sich heraus, dass nicht nur die Probleme ihrer Schwester, sondern auch eigene Lebensumstände und Gefühle zu einer Komplettüberforderung des Organismus geführt haben. Alkohol, Drogen, Bulemie, Versagen, Schuldgefühle, Ängste. Ängste, die sich in die Seele einbrennen.

Ich fragte mich zunehmend, wie sie diese Probleme alle angehen möchte. Auch und gerade weil sie zwei Verhaltensweisen an den Tag legt, die dem im Wege stehen, aber zutiefst menschlich sind. Zumindest für Patientinnen und Patienten in solchen klinischen Einrichtungen. Viele schlagen diesen Weg nicht ein und sind automatisch in jedweder Hinsicht kooperativ. So macht sich die Protagonistin beispielsweise gemeinsam mit anderen Patientinnen lustig über gewisse Therapien und intellektualisiert in therapeutischen Gesprächen ihre Bedürfnisse.

Das alles darf jedoch nicht als Manipulation ihres persönlichen Genesungsweges gedeutet werden. Möglicherweise klammert sie sich an die Momente, die sie noch kontrollieren kann. Auch wenn das Ergebnis am Ende Selbstbetrug ist. Eindrücklich wird an einer Stelle des Romans beschrieben, wie sie vollkommen die Kontrolle verliert, als sich beim Duschen, nachdem sie Shampoo in ihren Haaren verteilt hat, das Wasser nicht mehr abstellen lässt. Da ist nichts verkopft, nichts intellektualisiert, es ist schlicht und einfach authentische Panik. Und es tut weh, dies zu bezeugen. Wie kann man es ihr da übel nehmen, wenn sie an anderer Stelle versucht, die Kontrolle zu behalten, auch wenn es kontraproduktiv ist.

Lena-Marie Biertimpel findet eine Sprache für Unaussprechliches. Poetisch, prägnant, kontemplativ, aber eben auch distanziert. Die Luftpolster bestehen auch zwischen mir, dem Leser, und den Menschen dort in dieser Klinik. Weshalb sollten sie sich mir gegenüber auch komplett entblößen, wenn sie es sich selbst gegenüber nicht können? Keine Haut kann so schnell nachwachsen und Selbstwert keimt in der Regel auch nicht aus dem Nichts.

Ich hoffe für Peach, Johnny möge mir verzeihen, dass ich sie an dieser Stelle so vertraut nenne, dass sie nicht therapiemüde wird wie ihre Schwester, die wieder ein normales Leben führen möchte, ohne Klinik und Gruppentherapie. Ich hoffe, dass sie sich durch ihre Mitpatientin Willie, mit der sie in der Klinik Freundschaft schloss und die nun, nach ihrer beider Entlassung, bei ihr eingezogen ist, nicht in eine neue Situation der ungesunden Abhängigkeit und Überforderung manövriert. Ich wünsche mir für Peach, dass sie den eingeschlagenen Weg weiterverfolgt. Yoga, Einkäufe auf dem Bauernmarkt und entspannte Serienabende werden da nicht reichen. Sind aber sicher selbstfürsorgliche Bereicherungen. Ich wünsche ihr ein Leben, in dem Polster nur ein Ort des Zurücklehnens und der Behaglichkeit sind und einem nicht die Luft zum atmen nehmen. Ich wünsche ihr ein Leben ohne Abhängigkeit. Vielmehr wünsche ich ihr das Gegenteil. Und damit meine ich nicht Unabhängigkeit. Ich meine Bindung.